In der Altstadt von Darmstadt gab es zwei verschiedene Synagogen. Schon in
Teil 3 meines Stadtrundgangs hatte ich das kurz erwähnt. Das ist auch kein Geheimnis, so
schreibt das Stadtlexikon dazu etwas spärlich:
Nachdem es 1864 zur Spaltung in eine liberale und eine orthodoxe Gemeinde kam, gab es in der Altstadt zwei Synagogen. Wo genau diese Synagogen gelegen haben, erfährt man hier nicht. Andererseits wird
dieses Bild (Bild 1) oft und gerne als "die alte Synagoge"
betitelt, teils mit der Beschreibung "
Darmstadts älteste Synagoge eingeweiht 1737". Das ist so nicht haltbar.
Wo gab es denn nun diese zwei Synagogen? Am besten sieht man das auf einem Vergleich von zwei Karten, leider aus unterschiedlichen Zeiten: 1866 vs. 1905 (Hier muss man ggf. ein wenig mit den Ebenen spielen). Alternativ sieht man diese Situation auf Bild 2. 1866 gibt es ein tatsächlich als "Synagoge" beschriftetes Gebäude auf dem Grundstück zur Kl. Ochsengasse 12, 1905 schon nach dem Altstadtdurchbruch ein ähnliches Gebäude im Hinterhof der Kl. Ochsengasse 14. Beide Gebäude waren ursprünglich nicht von aussen sichtbar, kein Wunder, daß es eigentlich keine Bilder davon gibt. O.g. Bild zeigt ein Gebäude ungefähr im Jahr 1905, das eben erst durch den Altstadtdurchbruch freigestellt wurde. Es ist nicht die "alte Synagoge von 1737".
Zwei Synagogen, so nahe beieinander? Nun könnte man glauben, im Gewimmel der Altstadt hätten sich die Kartografen ein wenig vertan. Allerdings sind die "Flurkarten von 1905" des Vermessungsamts über jeden Zweifel erhaben, und auch die Karte von 1866 ist mir an allen anderen Stellen als sehr zuverlässing und akkurat bekannt. Das Stadtlexikon hat nämlich vollkommen recht, durch die Spaltung der jüdischen Gemeinde gab es kurzzeitig zwei Gebetshäuser in Darmstadt, und zwar direkt nebeneinander!
Wie es dazu kam steht ausführlich im Buch "
Alt-Darmstadt" von Wilhelm Diehl von 1913. (Ich danke dem Hinweisgeber hiermit ausdrücklich!) Diehl schreibt:
Wer von der Langgasse aus mit aufmerksamem Auge den Altstadtdurchbruch durchwandert, bemerkt unter den mancherlei Bauten, die sein Blick streift, zwei besonders merkwürdige Gebäude, die sich als Reste aus vergangenen Jahrhunderten darzustellen scheinen. Das eine ist der an der Ecke der Schulzen- und Langgasse stehende Schulzenbau, das andere die altertümlich aussehende Synagoge, die zu einem Haus der Kleinen Ochsengasse gehört. ... Nicht einig sind sich die "Gelehrten" über die Synagoge, die wegen ihrer "Altertümlichkeit" schon oft bewundert und sogar photographiert ward. Etliche leiten sie aus dem 17., etliche aus dem 18. Jahrhundert her. Die meisten halten sie jedenfalls für recht alt. Wie steht's mit diesen Ansichten?
Das kommt mir bekannt vor. Auch heute scheinen sich die "Gelehrten" nicht ganz einig zu sein. Einig sind sie sich heute zumindest insoweit, daß es zunächst in Darmstadt keine Gebetsräume gab, die den Namen "Synagoge" verdient hätten. Wie auch anderswo in Hessen fanden jüdische Gottesdienste meist in Privathäusern statt. Erst 1735 erlaubt
Landgraf Ernst Ludwig den Juden den Kauf einen Hauses in der kleinen Ochsengasse. Unter vielen anderen
Verordnungen lesen wir unter Punkt 29:
Den hiesigen Juden erlaubt, das Cassel-Meyerische Hauß zu kaufen, und eine Synagoge darinnen anzulegen 1735. (siehe auch Bild 3) Von dieser Zeit habe ich keine Karte, aber 1799 kann man diese Stelle gut identifizieren:
Es ist das Haus, das damals die Nr. 441 trägt (siehe auch Bild 4), im dazugehörenden
Häuserverzeichnis von 1799 steht dann "Die Judenschul, Kleine Ochsengasse 441", und auch der Weg durch die Hinterhöfe trägt die Bezeichnung "Durchgang durch die Judenschul". Was wir hier sehen, ist also die wirklich 1737 eingeweihte Synagoge. Das Grundstück wird später die Adresse "Kleine Ochsengasse Nr. 12" bekommen. Einen Grundriss wie auf der Karte von 1866 sehen wir allerdings noch nicht.
Wie genau es zu der ersten Synagoge in der Kleinen Ochsengasse kommt, beschreibt Diehl:
In des Hofjuden Baruch Löw Haus blieb die Judenschule bis zu dessen 1714 erfolgtem Tode. Als in diesem Jahre Baruchs in der alten Vorstadt gelegenes Haus verkauft wurde, nahm der Jude Benedict David die Synagoge auf. Hier blieb sie über 20 Jahre. Im Jahre 1735 weigerte sich Benedict Davids Sohn, ..., die Schule weiter zu behalten. Auch war der Raum für die "angewachsene gemeine Darmstädter Judenschaft" etwas zu klein geworden. Man machte deshalb von einem von der "Hainle, Meyer Cassels Wittib", gemachten Anerbieten Gebrauch und kaufte deren Haus, das in der Kleinen Ochsengasse gelegene frühere Daubische Haus, das große Hintergebäude aufwies, für 3600 fl. an. Bürgermeister und Rat gaben sich alle Mühe, den Verkauf rückgängig zu machen, da das Haus mitten in der Stadt gelegen sei und infolgedessen viele Bürger wegen des Lärmens in der Synagoge geärgert werden würden. Aber es half nichts. Der Kauf wurde vom Landgraf genehmigt und mit nicht geringen Kosten im Hinterbau des Hauses nach der Großen Ochsengasse hin eine Synagoge gebaut. Am 4. Juni 1737 wurde diese erste wirkliche Synagoge eingeweiht.
Bis auf die Karte von 1799 haben wir leider keine weiteren Hinweise, wie diese Synagoge zunächst ausgesehen haben mag. In den Adressbücher finden wir sie allerdings an der bekannten Stelle, z.B. 1822: "District B, Nr. 39: Synagoge der Judenschaft".
Im Jahr 1842 jedenfalls wurde genau diese erste Synagoge umgestaltet. Das ist zwar nicht auf Karten und Darstellungen unmittelbar nachzuvollziehen, aber vermutlich bekommt sie da den Grundriss, den wir von 1866 kennen. Sie taucht auch weiterhin in den Adressbüchern auf: 1843 "Kleine Ochsengasse 39, Synagoge, Israelitische Gemeinde", 1845-1860 dto., 1863 "Kleine Ochsengasse 39, Der israelitischen Gemeinde gehörig. (Synagoge)". In diesem Handbuch für Reisende von 1846 ist die Synagoge mit "G" gekennzeichnet.
1863 / 1864 kam es jedoch zur einer Spaltung der judischen Gemeinde in Darmstadt. Diehl schreibt:
"..., daß in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts sich von der Judenschaft zu Darmstadt eine Anzahl von Gliedern, meistens vom Lande eingewanderte, lossagte und eine eigene Gemeinschaft gründete, die heutige "israelitische Religionsgesellschaft". Diese der orthodoxen Richtung huldigende Gemeinde, die damals zum Beispiel der Einführung von Orgeln und anderen dem Buchstaben des Gesetzes widerstreitenden Neuerungen ablehnend gegenüberstand, baute für ihre Zwecke im Jahre 1864 ganz in der Nähe der 1737 errichteten Synagoge, in dem Hofraum eines Hauses in der Kleinen Ochsengasse, ein Schul- und Bethaus, das am 4. März 1864 eingeweiht wurde. Der Bau kam dadurch zustande, daß man an ein altes Hintergebäude des heute der Witwe Lippmann May gehörenden Hauses, Kleine Ochsengasse 14, einen chorähnlichen Anbau machte und beide zusammen als Gotteshaus einrichtete."
Das ist also die Synagoge, die wir von o.g. Bild her kennen, sie liegt in der Kleinen Ochsengasse 14. Somit ist es nur die zweitälteste Synagoge in der Darmstädter Altstadt.
Eine zeitlang müssen die beiden Synagogen nebeneinander existiert haben. 1873 entschloß sich die orthodoxe Gemeinde zu einem Neubau in der Bleichstraße (zunächst noch ein schlichtes Gebäude, ab 1906 ein prächtiger Bau im Jugendstil), 1876 zog die liberale Gemeinde mit dem Neubau in der Friedrichstraße nach. Die alte Synagoge in der Kleinen Ochsengasse 12 wurde danach abgerissen. Diese Tatsache wird z.B. in dieser Karte von 1878 eingetragen. Das wohl eher wenig und kurz benutzte Gebethaus in der Nr. 14 bleibt jedoch etwas unter dem Radar. 1866 auf jeden Fall sehen wir seinen von obigem Bild bekannten Grundriss noch nicht. Erst nach dem Altstadtdurchbruch erscheint das Haus nun korrekt auf den Karten. Es wird dann offenbar vielfach fälschlicherweise für die Synagoge von 1737 gehalten.
Auch die Informationen in den Adressbüchern zu diesem zweiten Gebetshaus sind spärlich. Immerhin ist 1865 neben der Synagoge in der Nr. 12 nun neuerdings in der Nr. 14 ein "Rabinats-Candidat Löb Sulzbacher" zu finden, der zuvor nur in der Nr. 10 verzeichnet war. Sulzbacher war offenbar treibende Kraft bei der Abspaltung der orthodoxe Gruppe. Ab 1876 taucht dann der schon o.g. "May, Lippmann, Trödler" für die Nr. 14 auf. Wie das Gebetshaus von da an genutzt wird, ist mir nicht bekannt.
Im selben Jahr ist die Nr. 12 dann auch als der "Stadt Darmstadt gehörig" angegeben. Diese Synagoge dort wird in der Folge abgerissen, wann genau ist unklar, das Grundstück wird aber erst viele Jahre später beim Altstadtdurchbruch komplett geräumt. Hier ein paar Zeitungsartikel aus dem Jahr:
... Nachdem eine Deputation ihren Dank für den durch Herren
Ohly persönlich vollzogenen Ankauf der alten Synagoge zum Zwecke der Freilegung eines offenen Platzes, welcher diesem Quartier Luft und Licht geben soll ...
(
Darmstädter Tagblatt, 29. Januar 1876)
Der Abbruch der alten Synagoge soll nun bewirkt werden. Bezüglich der übrig bleibenden Räume ist die Einquartierungs-Commission um ihr Gutachten ersucht, ob und wie solche etwa zu Einquartierungeszwecken benutzt werden können.
(
Darmstädter Tagblatt, 8. April 1876)
Die zu der alten Synagoge gehörigen, zwischen dem Bockeneck und der kl. Ochsengasse gelegenen Gebäulichkeiten sollen Dienstag den 20. d. Mts., Vormittags 11 Uhr, auf den Abbruch an die Meistbietenden unter den im Termin bekannt gemacht werdenden Bedingungen öffentlich versteigert werden.
(
Darmstädter Tagblatt, 15. Juni 1876)
Der alte Betsaal an der Synagoge, kleine Ochsengasse, ist zum Betrieb einer Suppenanstalt für dieses Jahr in Aussicht genommen.
(
Darmstädter Tagblatt, 21. September 1876)
Zum Abschluß will ich noch verdeutlichen, daß unser fragliches Bild das durch den Altstadtdurchbruch freigestellt Haus darstellt, das wir auf den Karten von 1905 auf dem Grundstück Kleine Ochsengasse Nr. 14 sehen. Der Abbruch der Häuser drumherum ist noch nicht so weit fortgeschritten wie auf der Karte. Bei der Orientierung hilft uns dieses Bild aus der selben Zeit. Hier wird klar, daß wir uns auf dem freigeräumten Grundstück der Nr. 12 (also der längst nicht mehr existierenden ältesten Synagoge) befinden, wir schauen auf die Häuser Kleine Ochsengasse Nr. 9 und 11, die auch bald fallen werden. Auf den Bildern 5 und 6 ist das noch einmal mit einer Fluchtlinie verdeutlicht. Links am Bildrand ist eindeutig das "Gebetshaus" von 1864. Hier das Ganze ein wenig später, als der Altstadtdurchbruch weiter fortgeschritten ist. Und hier mit fertiggestellter Landgraf-Georg-Straße.
Das weitere Schicksal des orthodoxen Gebetshauses ist unklar. Es ist mir nicht bekannt, daß es etwa 1938 zerstört wurde. Möglicherweise war seine ehemalige Bestimmung nicht mehr bekannt. Nach dem Umzug der orthodoxen Gemeinde wurde das Gebäude vom jüdischen Eisenhändler Lippmann-May vermutlich als Lagerraum benutzt. Nach dem Altstadt-Durchbruch war es allerdings recht prominent an der Ecke der Landgraf-Georg-Straße sichtbar, hier auf einem Luftbild von 1936. Ob der markannte Bau als "jüdisch" wahrgenommen wurde und ggf. den Nazi ein Dorn im Auge war, ist reine Spekulation. Auf jeden Fall verschwindet es bis 1943, was dieses leider nicht exakt datierte Bild aus dem Stadtarchiv zeigt. Zumindest steht damit fest, das diese "orthodoxe Synagoge" nicht den Bomben zum Opfer gefallen ist.
Im Adressbuch finden wir 1933 noch "
Kl. Ochsengasse 14, May, Lippmann, Firma, Lagerräume. May, Lippmann, Alteisen-, Metalle- u. Rohprodukten-Großhandlung. Auch 1937 ist das noch der Fall. Im Adressbuch 1940 taucht dann nur noch "
Stadt Darmstadt" auf. Das letzte Inserat der Firma "Lippmann May" mit dieser Adresse im Darmstädter Tagblatt stammt vom 30.11.1932.