Die Wilhelmstraße 3 in Langen
Als wir 2010 angefangen haben, unser gerade erworbenes Haus zu renovieren, haben wir uns um das wirkliche Alter kaum gekümmert. Es schien knapp 120 Jahre alt zu sein, und das war genug, um mächtig Arbeit zu erzeugen. Einige Zweifel gab es schon immer, zumindest müsste an der selben Stelle schon länger ein Haus gestanden haben. Im Laufe der Zeit war ich öfters zu Gast im Stadtarchiv Langen, und da hat sich das dann auch bestätigt: Irgendwas stand da auf dem Grundstück so ab 1836 oder etwas später.
Man bat mich dann, einen Beitrag über mein Haus für ein heimatgeschichtliches Buch zu schreiben. Da reichten natürlich vage Ahnungen nicht, und ich musste mich tiefer in das Thema knieen. Was ich schließlich über die Geschichte des Hauses herausgefunden haben, und wie wir die Renovierung durchgeführt haben, das liest man komplett am besten in dem Artikel.
Oder man liest hier die Kurzfassung:
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Alle Quellenverweise findet man übrigens in o.g. Artikel.
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1722: Eine zweiklassige Kirchschule wird in Langen am Marktplatz als Fachwerkhaus gebaut.
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1811: Der Schreiner und Straußwirt Anthon Herth aus Langen und seine Frau Johanna Barbara geb. Lehrbach bekommen am 13.12.1811 den Sohn Johann Heinrich, der in der Folge Schreinermeister wird. Ob Heinrich auch auf die oben genannte Schule geht, wissen wir nicht. Es ist aber recht wahrscheinlich.
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1832: Die beiden bekommen bis 1832 acht weitere Kinder.
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gegen 1836: Beste Postkutschenzeit, Langen expandiert nach Süden. Eine „neu angelegte Gasse“ wird geplant, der obere Teil der späteren Wilhelmstraße. Die Grundstücke der Nummern 3, 5 und 7 sind schon verteilt. Für die Nummer 3 wird später noch ein Stück vom Grundstück der Nummer 5 abgezwackt.
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1836: Das Schulhaus von 1722 soll abgerissen werden. Im Großgerauer Wochenblatt vom 7.3.1836 steht: „Mittwoch den 9. März Mittags 1 Uhr, soll das Schulhaus ... an den Meistbietenden auf den Abbruch versteigert werden. Dasselbe ist 60 Fuß lang, von Holz erbaut, und eignet sich zu zwei Wohnungen, auch können zwei einstöckige Wohnhäuser davon erbaut werden. ...“. Johannes Breidert, der Ziegler (22.05.1795 - 03.04.1855), ersteigert im März 1836 im zweiten Durchgang dieses Gebäude „von den unteren Schwellen bis oben den Spitzen des Dach ... mit allen dazu gehörigen Materialien“ für 423 Gulden, später auch noch 800 Backsteine aus dem Keller des Hauses und 4 Treppensteine für 12 Gulden.
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ab 1836: Johannes Breidert, der Ziegler baut drei eingeschossige Häuser: Nr. 3, Nr. 5 und Nr. 7. Er nutzt offenbar dazu die zuvor ersteigerten Baumaterialien. Im Brandversicherungskataster von 1819 erscheint das Haus Nr. 5 schon im Jahr 1836, die Nr. 3 dann im Jahr 1839, der Eintrag für das Haus Nr. 7 ist sonderbarerweise ohne Datum. Alle drei Häuser sind zunächst auf Johannes Breidert mit je 800 Gulden versichert, bevor sie später verkauft werden. Es gibt zwar keine sicheren Beweise, welche Balken der alten Schule nun in welchem dieser drei Häuser verwendet wurden. Eine dendrochronologische Untersuchung im Jahr 2018 (also ein Vergleich der Jahresringe) von drei Eichenbalken aus dem Erdgeschoß unserer Wohnung legt aber nahe, daß viele davon bei uns gelandet sind. Der späteste identifizierte Jahresring in einer Probe stammt von 1721, die anderen Proben liegen wenig früher.
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1838: Johannes Breidert, Ziegler, und seine Ehefrau Margaretha geb. Bär verkaufen das Haus Nr. 5 („Ein 1stöckiges Wohnhaus mit Hofraithgrund“) an Georg Heinrich Bär und dessen Ehefrau Wilhelmine geb. Herth für 830 Gulden. Georg Heinrich Bär ist laut „Familienbuch Langen“ Metzger.
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1841: Am 29.08.1841 heiraten der Schreiner Heinrich Herth und Anna Maria Jahn.
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1841: Heinrich Herth kauft Haus Nr. 3. Das bisher noch von Johannes Breidert versicherte Haus ist zumindest ab dann auf „Heinrich Herth, Schreiner“ im Brandkataster eingetragen.
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1842: Heinrich Herth und seine Frau haben eine Totgeburt.
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1843: Heinrich Herth und seine Frau bekommen den Sohn Carl Heinrich, der aber auch nur ein kurzes Leben hat (Tod durch Auszehrung 20 Jahre später). Kein leichter Start für die junge Familie.
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1843: Die Nr. 3 erhält eine Scheuer
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1846: Die Main-Neckar-Bahn wird eröffnet und bringt damit das Wirtschaftsgefüge in Langen durcheinander, war man bisher doch stark abhängig vom Durchgangsverkehr der Landstraße von Darmstadt nach Frankfurt. Die damit endgültig einzughaltende Industrialisierung forderte von Vielen eine berufliche Neuorientierung. Der Beruf des Schreiners scheint dennoch halbwegs krisensicher gewesen zu sein.
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1847: Heinrich Herth und seine Frau bekommen bis 1853 vier weitere Kinder, darunter am 15.5.1847 Georg Nicolaus, der wie der Vater und der Großvater Schreiner werden sollte, und einziger der Geschwister, dem ein langes Leben vergönnt ist.
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1861: Heinrich Herth stirbt früh am 10.04.1861, sein Vater Anton lebt bis 1863, seine Frau Anna Maria lebt bis 1889.
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1862: Grundstück und alle Gebäude der Wilhelmstr. 3 weisen den selben Grundriss auf wie heute.
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1862: Die Nr. 5 bekommt eine Scheuer und einen „Schweinstall“.
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1863: Die Wilhelmstraße ist weiter nach Süden bebaut und erreicht in diesem Jahr die Hausnummer 24.
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1870: Der Sohn von Georg Heinrich Bär, Jeremias Heinrich, übernimmt das Haus Nr. 5, zumindest ist er ab dann im Brandkataster eingetragen. Im Familienbuch Langen ist er als „Maurer“ bekannt.
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1876: Am 07.03.1876 stirbt Georg Heinrich Bär.
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1878: In der Wilhelmstraße wie auch im Rest von Langen werden Wasserrohre verlegt, vermutlich werden dann auch die Häuser Nr. 3 und Nr. 5 an die Wasserversorgung angeschlossen.
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1879: In der Nr. 3 stirbt ein weiteres Mitglied der Geschwister Herth sehr früh. Im „Sterbenebenregister 1876-1880 des Standesamts Langen“ ist vermerkt: „Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute, der Persönlichkeit nach bekannt, der Schreiner Georg Nicolaus Herth wohnhaft zu Langen und zeigte an, daß seine Schwester Helena Sophia Herth, Taglöhnerin, 29 Jahre alt,... ledige Tochter des verstorbenen Schreiners Johann Heinrich Herth und seiner Ehefrau Anna Maria geb. Jahn ..., zu Langen in des Anzeigenden Bewohnung am zweiten April des Jahres tausend acht hundert siebenzig und neun, nachmittags um sechs ein halb Uhr verstorben sei.“
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1883: Die Nr. 5 bekommt einen zusätzlichen Kamin, und die Ladentür wird zugemauert. Um was für eine Art Laden es sich handelte, ist uns unbekannt, es wird aber wohl eine kleine Metzgerei gewesen sein.
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1883: Heinrich Herths Sohn Georg Nikolaus Herth (auch Schreiner) übernimmt das Haus Wilhelmstr. 3, zumindest ist er ab nun im Brandkataster eingetragen.
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1884: Georg Nicolaus Herth und Maria Margarethe Reinheimer heiraten am 17.02.1884. Trauzeugen sind der „Fuhrmann Johann Wilhelm Bär, 45 Jahre alt“ und „Schreiner Wilhelm Conte, 33 Jahre alt.“
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1885: Georg Nicolaus Herth und seine Frau bekommen am 15.11.1885 einen Sohn Friedrich Adolph. Dieser wird später Lehrer in Offenbach.
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1888: Georg Nicolaus Herth und seine Frau bekommen am 15.11.1888 (also exakt drei Jahre später) einen weiteren Sohn Philipp Ludwig. Dieser wird zunächst Gerichtsschreiber-Lehrling und schließlich Justiz-Inspektor. Weitere Kinder bekommen die Beiden nicht. Ob dies ein Ausdruck des Zeitgeistes war oder ein Zeichen eines gewissen Wohlstandes, können wir nicht sagen. Auf jeden Fall reißt hier die Tradition des Schreinerhandwerks ab.
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13.7.1893: Ein Brand durch Blitzschlag zerstört die Scheune und die Ställe in der Wilhelmstr. 5. Das Langener Wochenblatt schreibt: “... In der Scheuer fand das Feuer reichlich Nahrung, so daß dieselbe in kaum einer Viertelstunde bis auf das massive Mauerwerk zusammengebrannt war. Stall und Holzschuppen brannten ebenfalls rasch nieder. Der rasch herbeigeeilten freiw. Feuerwehr gelang es, dem Weitergreifen des verheerenden Elementes Einhalt zu gebieten, und das untere Stockwerk des im Jahre 1836 aus dem vom alten Schulhause herrührenden, guten Eichenholzes erbauten Wohnhause zu retten. ...“ Der Bericht endet mit dem Hinweis: „Der Beschädigte ist bei der Aachener u. Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (Agent Buchdrucker Werner) versichert. Morgen war das Versicherungsjahr abgelaufen.“ G.H.W. Werner war ein pfiffiger Geschäftsmann und hat in seiner Zeitung neben diesem „Wink mit dem Zaunpfahl“ auch zwei Seiten weiter eine Anzeige eingestellt: „Versicherungs-Abschlüsse bei der ... Feuer-Versicherungs-Gesellschaft nimmt entgegen und ertheilt gerne Auskunft darüber die Agentur für Langen und Umgegend: G.H.W. Werner“
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26.7.1893: Jeremias Heinrich Bär und Familie bedanken sich in einer Anzeige im Langener Wochenblatt: „Dank. Unseren werthen Nachbarsleuthen, welche uns während des bei uns ausgebrochenen Brandes dadurch hülfreich zur Seite standen, daß sie unsere Mobiliar-Gegenstände in Verwahrung nahmen, sagen wir den innigsten Dank. - Ebenso danken wir herzlich Herrn Ad. Breidert II. für die bereitwillige Unterkunft, die uns derselbe in seiner Behausung gewährte.“
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1893: Das Wohnhaus Nr. 5 wird von Jeremias Heinrich Bär um einen Kniestock aufgestockt, dahinter werden Scheune und ein großer Schuppen neu errichtet (genehmigt am 5. September 1893). Spätestens ab 31.7.1894 ist dies auch im Brandkataster eingetragen.
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1895: Am 09.03.1895 stirbt Jeremias Heinrich Bär, 1903 stirbt seine Frau Maria Elisabeth.
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1899: Georg Nikolaus Herth inseriert im Langener Wochenblatt: „Bilder aller Art werden eingerahmt bei Schreiner Herth“
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1900: Im Adressbuch von 1900 lesen wir: Wilhelmstraße 3: Herth, Georg Nikolaus Schreinermstr., Wilhelmstraße 5: Bär, Jeremias Heinrich Landwirth Witwe
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1900: Georg Nikolaus Herth reagiert auf die gestiegene Bautätigkeit in Langen. Er inseriert mehrfach im Langener Wochenblatt: „Geschäfts-Empfehlung. Beehre mich hierdurch ergebenst anzuzeigen, daß ich ein Lager in Fenster- und Spiegelglas, sowie Rahmleisten errichtet habe ...“
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1902: Georg Nikolaus Herth verkauft ein großes Stück Bauland an der Dieburger Straße: „Mein Garten (Schöner Eckbauplatz), an der Dieburgerstraße, ... 21,7 m Straßenfront, ist zu verkaufen.“ Möglicherweise verschafft er sich damit Geld für die anstehende Erweiterung seines Hauses.
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bis 1903: Das Wohnhaus Nr. 3 wird um einen Kniestock aufgestockt, die Scheune dahinter wird ebenfalls auf dieselbe Höhe gebracht. Eine sichere Datierung dieser Baumaßnahme ist uns leider nicht gelungen, hier können wir uns nur am Eintrag im Brandkataster orientieren. Einen Bauplan oder eine Genehmigung des Kreisamts Offenbach wie beim Nachbarhaus gibt es nicht, die Akten des Kreisamts sind leider 1944 verbrannt. Wie dem auch sei, der Schreiner Herth verkauft in diesem Jahr „gebrauchte Sandsteinplatten“, „Bux zum Versetzen“ und „Einige Hundert Tuff-Steine“.
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1904: Das Haus Nr. 5 ist ab nun im Brandkataster eingetragen für Wilhelm Bär. Er ist Landwirt.
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1904: Auch das Haus Nr. 7 wird nun aufgestockt, wie dem Brandkataster zu entnehmen ist.
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1910: Im Adressbuch von 1910 finden sich: Wilhelmstraße 3: Herth, Georg Nikolaus, Schreinermeister, Wilhelmstraße 5: Bär, Wilhelm I. Landw.
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1914: Im Adressbuch von 1914 finden sich erneut: Wilhelmstraße 3: Herth, Georg Nikolaus, Schreinermeister , Wilhelmstraße 5: Bär, Wilhelm I. Landwirt
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1916: „Philipp Ludwig Herth, Gerichtsschreiber-Aspirant“ und „Elisabeth Breidert, ohne Beruf“ heiraten am 18.11.1916. Trauzeugen sind „Schreinermeister Georg Nicolaus Herth, 69 Jahre alt“ (Vater des Bräutigams) und „Bäckermeister Daniel Breidert, 58 Jahre alt“ (Vater der Braut).
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1918: Langen wird von den Franzosen besetzt.
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1919: Luise Margarethe Else Herth, Tochter von Philipp Ludwig und Elisabeth Herth, stirbt zwei Monate nach ihrer Geburt (12.04.1919 - 12.06.1919)
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1920: Am 27.11.1920 wird Helmut Herth geboren. Er wird später das Haus Nr. 3 übernehmen, nach seinem Tod kauft es im Jahr 2010 eine gewisse Familie Doffing.
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1920: Philipp Ludwig Herth wird vom Justizpraktikanten zum Amtsgerichtsobersekretär befördert
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1923: Georg Nikolaus Herth stirbt am 11.7.1923, sein Sohn Philipp Ludwig übernimmt das Haus Nr. 3. Er kauft am 19.7.1923 seinem Bruder Friedrich Adolf Herth (Lehrer) dessen Anteil an der Erbschaft für 6 Millionen Mark ab. Das Geld dazu leiht er sich kurzfristig von der Schaumwein- und Brause-Fabrik „Dr. A. Hartmann“ bzw. einem Mitarbeiter namens Koethe. Angesichts der galoppierenden Inflation war das sicher ein geschickter Schritt.
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1924: Auch im Brandkataster ist nun Philipp Ludwig Herth eingetragen.
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1924: Langen geht ans Stromnetz, wahrscheinlich wurden auch die Häuser Nr. 3 und Nr. 5 angeschlossen.
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1928: Justizinspektor Ludwig Herth läßt in der Nr. 3 einen Kachelofen einbauen (s.u.).
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verm. 1929 wird das Haus Nr. 3 ans Abwasser angeschlossen, zumindest existiert aus diesem Jahr ein „Entwässerungsplan“, der den Verlauf der Abwasserleitung von zwei gegenüberliegenden „Wassersteinen“ durch den Keller zur Straße zeigt. Zuvor und auch noch bis Ende der 50er-Jahre tat eine Sickergrube unter dem Aborthäuschen und dem Schweinestall ihren Dienst.
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1937: Im „Adressbuch Offenbach 1937/38“ ist für Langen unter Wilhelmstr. 3 „Herth Phil. Ludw. (Justizinspektor)“ und unter Wilhelmstr. 5 „Bär Wilhelm, 1. (Hilfsarbeiter)“ aufgeführt
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In den 50er- und 60er-Jahren werden weitere Umbauten an der Nr. 3 vorgenommen. Die Werkstatt im hinteren Teil des Wohnhauses wird zu einem Bade- und einem Schlafzimmer umgebaut, ein Teil des hinteren Kniestocks wird durch eine Gaube erhöht, und es werden vier große Fensterfronten eingebaut. Schließlich wird über die Schindelfassade eine weitere Fassade aus Aluminium-Lamellen montiert, welche ein Fenster zum Hof sowie die typischen kleinen „Kniestock-Fenster“ unter sich bedeckt.
Dendrochronologische Proben
05.02.19 10:51 breiter Kristof
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