Egelsbach hatte im letzten Jahrhundert einen rührigen, aber etwas in Vergessenheit geratenen Heimatforscher, den Pfarrer Georg Wehsarg (1860-1945). Der Geschichtsverein Egelsbach hat ihm 1995 ein Büchlein gewidmet: "In Memoriam Georg Wehsarg".
... geriet er ins Kreuzfeuer der NSDAP (Ortsgruppe Egelsbach). In Nr. 99 der "Egelsbacher Neuesten Nachrichten" vom August 1935 lancierten Parteigenossen unter dem Titel "Die stillen Beobachter haben das Wort" sogenannte Leserbriefe ins "Elschbächer Blättche". Darin wurde Wehsarg zusammen mit anderen Egelsbacher Bürgern als "Volksverräter" bezeichnet, weil er bei einem Juden Kohlen gekauft hatten. Seine Antwort, die sich ironisch mit dem "famosen Titel des Volksverräters" des anonymen Artikelschreibers auseinandersetzte, fiel der Pressezensur des Ortsgruppenleiters B. zum Opfer und liegt heute zusammen mit einem parteiamtlichen Schreiben an Pfarrer Wehsarg wohlverwahrt im Hessischen Staatsarchiv.
Auszugsweise zitierte Quellen und besonders abgekürzte Namen der Protagonisten lassen bei mir immer die Finger jucken. Es handelt sich bei dem "Ortsgruppenleiter B." nämlich um den NSDAP-Ortsgruppenleiter von Langen Wilhelm Barth (
wir erinnern uns), damals auch kurzzeitig in Egelsbach tätig.
Nun, der denuntiatorische Text in den "Egelsbacher Neuesten Nachrichten" 1935 liest sich im Wortlaut:
Vielen deutschen Volksgenossen scheint noch immer nicht bekannt zu sein, "daß der Jude unser Unglück ist", denn die stillen Beobachter, deren Motto heißt: Sage mir wo du kaufst - ich sage dir wer du bist, haben Feststellungen gemacht, daß es auch in unserem Orte Volksgenossen gibt, bei denen der Jude ein- und ausgeht. Mit anderen Worten heißt es: Wer beim Juden kauft, ist ein Volksverräter! Trotz alledem gibt es auch hier noch Vg., auf die dies in Wahrheit zutrifft. Wenn sich unter diesen fragwürdigen Zeitgenossen noch Beamte oder Bedienstete staatlicher Betriebe befinden, oder solche, die vom Staat Rente oder Pension beziehen, so werden sich demnächst die einzelnen Stellen mit dem volksverräterischen Treiben derjenigen, die es betrifft, einmal näher befassen müssen. Einwandfrei wurde bis jetzt festgestellt, daß die Volksgenossen Pfarrer i.R. Wehsarg, Bahnstraße, Eisenbahner Wilhelm Welz, Ernstludwigstraße und der gewesene S.-A.-Mann Jakob Pülicher, Mainzerstraße von einem Juden mit Kohlen beliefert worden sind. Daß diese Angaben auf Wahrheit beruhen, dürfte nicht besser bezeugt werden, als mit Ausschluß des oben genannten Pülicher aus der S.A. Aus all diesen Gründen werden die hiesigen Volksgenossen ersehen, daß die Judenfrage nicht eine Einzelfrage, sondern eine Volksfrage ist. Wer als deutscher Volksgenosse angesehen werden kann und wer nicht, darüber wird jetzt strengstens gewacht. Von nun an werden die hiesi(g)en jüdischen Geschäfte noch strenger unter die Lupe genommen als bisher und alle diejenigen, die dort kaufen, öffentlich bekannt gegeben. (R.L.)
Nota bene, Barth war in Langen auch "Propaganda- u. Presseamtsleiter der N.S.D.A.P.", ob der obige Text direkt von ihm stammt, ist allerdings nicht bekannt. Wie dem auch sei, Wehsarg lässt dies nicht auf sich sitzten und schreibt eine Replik, die man durchaus als "Stinkefinger" gegen Barth auffassen kann, wenn auch in zweifelhaftem Duktus (
HStAD O 61 Wehsarg Nr. 3/1):
Egelsbach den 26. August 1935: In meiner nationalen Gesinnung, die ich wie bekannt sein dürfte, durch Wort und Tat auch in allerschwerster Zeit betätigte, fühle ich doch so gefestigt, daß mich der famose Titel „Volksverräter“ mit dem mich ein Artikelschreiber in Nr. 99 der Egelsbacher Neusten Nachrichten beehrte, kaum berührt und mir nur ein Lächeln abgewinnt. Den Titel „Volksverräter“ bin ich ja gewohnt noch aus der Zeit vor 5 Jahren. Mit ihm haben mich viele beehrt, die nicht grad wie ich im Kampf um die nationale Erhebung gestanden haben. Wie ich aber in nationalem Sinne zu handeln habe, darf der anonyme Artikelschreiber getrost mir selber überlassen. G. W.
Ein Schlagabtausch in der Öffentlichkeit ist natürlich nicht im Interesse des Ortgruppenleiters, und so antwortet er an Wehsarg:
Egelsbach, 28. August 1935: An den Vg. Pfarrer Wehsarg, Egelsbach. Ich musste feststellen, dass Sie in der Nr. 99 der Egelsbacher Neueste Nachrichten als Volksverräter wegen Kohlenkäufen bei Juden von unbekannter Seite angegriffen wurden. Ich verurteile diesen Presseangriff, da ich überzeugt bin, dass mit diesen Methode eine Erziehung der Volksgenossen in der Judenfrage nicht gesichert wird, anderenfalls befremdet es mich sehr, dass Sie als deutscher und ev. Pfarrer mit Juden Geschäfte tätigen. Wenn ich Ihnen Ihre nationale Gesinnung nicht absprechen will, muss ich Sie jedoch darauf aufmerksam machen, dass Ihre Handlungsweise ganz und gar nicht mit nat. Pflichtempfingen in Einklang zu bringen ist. Ich bitte Sie, dies in Zukunft zu beherzigen. Die Aufnahme Ihrer Erwiderung in den Egelsbacher Neuesten Nachrichten habe ich unterbunden, weil ich kein Interesse daran habe, im dortigen Lokalblatt private Meinungsauseinandersetzungen über weltanschauliche Dinge zu dulden. Heil Hitler! Barth, Ortsgruppenleiter.
Wehsarg antwortet schließlich:
An den Ortsgruppenleiter Barth Egelsbach. Von Ihrer Mitteilung, daß Sie meine Erwi(e)derung unterbunden haben, mir mithin das Recht und die Möglichkeit genommen haben auf eine mir in aller Öffentlichkeit zugefügte schwere Beleidigung (die Sie nicht billigen aber auch nicht verhindert haben) auch in der Öffentlichkeit wiedern zu können, habe ich Kenntniß genommen. Doch auch ohne öffentliche Erwi(e)derung hege ich keine Besorgniß darüber, wie in der Gemeinde, in der ich Jahrzehnte lange gewirkt habe, diese Beleidigung aufgenommen wird. Heil Hitler